HT 2004: Kommunikative Konstruktion eines Raumes - Juden in Polen und das "Ghetto"

HT 2004: Kommunikative Konstruktion eines Raumes - Juden in Polen und das "Ghetto"

Organisatoren
Katrin Steffen
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Yvonne Kleinmann, Leipzig

Die von Katrin Steffen (Deutsches Historisches Institut, Warschau) initiierte und geleitete Sektion wurde von Monika Richarz (Berlin; ehemalige Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg) mit viel Inspiration moderiert. In insgesamt vier Vorträgen widmeten sich Jürgen Heyde (Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Halle), Alina Cała (Jüdisch-Historisches Institut, Warschau), Katrin Steffen und Anna Lipphardt (Doktorandin am Doktorandenkolleg „Makom“, Universität Potsdam) der Problematisierung und Differenzierung des „Ghetto“-Begriffs in der polnisch-jüdischen Geschichte. Ohne Ausnahme sprachen sie vom „Ghetto“ in Anführungsstrichen, um auf die inflationäre und oft widersprüchliche Verwendung des Begriffs aufmerksam zu machen und anschließend seine Funktionalisierung und jeweilige Bedeutung in der historischen Entwicklung zu bestimmen.

Das „Ghetto“ und seine Bedeutungen

Zunächst verfolgte Jürgen Heyde unter dem Titel Der Begriff des „Ghettos“ in den europäischen Emanzipationsdiskursen an der Wende zum 19. Jahrhundert (Frankreich, Preußen, Polen) die Entwicklung der Bedeutungsdimensionen des Wortes „Ghetto“. Ausgehend von der konkreten topographischen Bezeichnung jüdischer Viertel mit Zwangscharakter in italienischen Städten seit dem frühen 16. Jahrhundert, fand er den Begriff in diversen anderen Kontexten: als Epochenbegriff für jüdische Siedlungs- und Lebensformen in der frühen Neuzeit, als Synonym für „Konzentrationslager“ und Vorstufe der nationalsozialistischen Judenvernichtung und schließlich als soziologischen Terminus für jegliche ethnische oder soziale Cluster-Bildung seit dem 20. Jahrhundert.

Das historische Ghetto als Zwangsansiedlung aller Juden einer Stadt ließ sich allein im frühneuzeitlichen Italien sowie in einer Reihe von französischen und deutschen Städten nachweisen, während es in Polen-Litauen lediglich jüdische Viertel gab, die sich jenseits christlicher Kontrolle organisierten. Mit gutem Grund fragte Jürgen Heyde daher, warum im europäischen Emanzipationsdiskurs seit dem 19. Jahrhundert gerade die jüdische Bevölkerung Polens und Russlands zu „Ghetto“-Bewohnern degradiert wurde. Überzeugend vertrat er die These, dass „Ghetto“ in diesem Zusammenhang eine Raumkonstruktion bezeichnete, eine Metapher, die mit dem ursprünglichen topographischen Begriff nichts mehr gemein hatte. Das „Ghetto“ verkörperte künftig den jüdischen Raum der Vormoderne im Gegensatz zu einer rechtlich emanzipierten und kulturell modernisierten jüdischen Bevölkerung. Ob im Kreise Moses Mendelssohns, in den Schriften des preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm, in der französischen Nationalversammlung oder im polnischen Vierjährigen Reichstag – unabhängig von der weiteren Entwicklung der Judenemanzipation in den einzelnen Staaten galten die Juden zunächst im gemeinsamen Vorurteil als Symbol der Rückständigkeit und Isolation.

Weiter untersuchte Jürgen Heyde den „Ghetto“-Begriff in Literatur und Historiographie. In Preußen, seit 1772 durch Gebietsannexionen aus den Teilungen Polens im Osten von einer dicht siedelnden jüdischen Bevölkerung bewohnt, interessierte er sich vor allem für das Genre der „Ghettoliteratur“. Hier wurden die Juden nicht allein als Sondergruppe im Ständesystem betrachtet, sondern die Lebenswelt der traditionsorientierten Juden in ihrer „Rückständigkeit“ eindeutig dem Osten zugeschrieben. Das jüdische Viertel, die jüdische Gemeinde und ihre autonome Verwaltung figurierten ebenso undifferenziert wie anachronistisch als „Ghetto“. Eine ganz ähnliche Tendenz konnte der Referent in der frühen Geschichtsschreibung der Haskala, der jüdischen Aufklärung, nachweisen: Auch hier stand das „Ghetto“ als zentrales Sinnbild für die voremanzipatorische Epoche. Allerdings galten die bekannten Attribute der Rückständigkeit, Isolation und Armut als Probleme, die es durch religiöse und soziale Reform zu überwinden galt, und keineswegs als starre Größen.

Abschließend fragte Jürgen Heyde nach den Gründen für die Durchsetzungskraft des „Ghetto“-Begriffs jenseits seiner historischen Bedeutung und charakterisierte das „Ghetto“ gerade im Hinblick auf Polen als Metapher der kulturellen Abgrenzung zwischen Ost und West, Vormoderne und Moderne und somit als Legitimation für die Verweigerung der Judenemanzipation im östlichen Europa.

Das „Ghetto“ als Metapher und seine Namensgeber

Eine gelungene Anknüpfung an diesen Problemaufriss bildete Alina Całas Vortrag
„Gettoization“ of Jews by the non-Jews in Poland in the XIXth and XXth Centuries. Hatten in den Ausführungen ihres Vorredners christliche Perspektiven auf die polnischen Juden dominiert, erläuterte sie einleitend, dass der „Ghetto“-Begriff unter polnischen Juden erst im späten 19. Jahrhundert gebräuchlich wurde. Zuvor dominierte die jiddische, wesentlich positiver besetzte Entsprechung des „Schtetl“. Polnische Juden verstanden darunter ebenso eine kleine, überwiegend von Juden bewohnte Stadt, wie eine bestimmte jüdische Gemeinde (kehila) mit ihrer sozialen Hierarchie, ihren autonomen Strukturen und Bräuchen. Allerdings verwies die Referentin in Anlehnung an die jüngste Forschungsmeinung auch auf die nichtjüdischen Aspekte des „Schtetl“: die polnischen oder russischen Eliten, die christlichen Ärzte und Juristen und schließlich auf die Bauern als temporäre Bevölkerung während der Markttage. Zusammenfassend charakterisierte sie das „Schtetl“ als System wechselseitiger Abhängigkeit und friedlicher Koexistenz, seltener als Quelle sozialen Konflikts. Die im späten 19. Jahrhundert aufkommenden Phänomene der massenhaften Migration und Urbanisierung betrachtete sie als tiefgreifende Gefährdung des beschriebenen Sozialgefüges, da neben das „Schtetl“ große Städte als neue Zentren sowohl moderner als auch orthodoxer jüdischer Kultur traten.

Im Hauptteil ihrer Untersuchung widmete sich Alina Cała dem Einzug des „Ghetto“-Begriffs in die polnische Publizistik seit den 1870er Jahren. Ebenso wie Jürgen Heyde interpretierte sie ihn als negative Metapher und nicht als konkrete Raumbezeichnung. Im Folgenden analysierte sie die Bedeutung und Funktion von „Ghetto“ in den zentralen politischen Diskursen bis zum Ende des Holocausts.

Für die 1870er Jahre konstatierte die Referentin unter polnischen Positivisten und assimilierten Juden eine gemeinsame Vision: Bildung und wirtschaftliche Reform sollten die vermeintliche „jüdische Isolation“ aufheben und die Akzeptanz durch die christliche Gesellschaft herbeiführen. Hingegen sahen konservative polnische Kreise eine Lösung der „jüdischen Frage“ allein in der Anpassung der jüdischen Bevölkerung an polnische Sitten und im Optimalfall in der Konversion zum Katholizismus.

Mit dem Eintritt der Zionisten in die politische Arena der 1890er Jahre stellte Alina Cała eine Erweiterung in der Bedeutung des „Ghetto“-Begriffs fest. Einerseits stand das „Ghetto“ auch aus zionistischer Sicht als pejorative Metapher für die orthodoxe Lebenswelt und ihr religiöses Regelwerk, andererseits wurde es zum Sinnbild für Volksweisheit, gespiegelt in einer idealisierten Folklore. Zwar wurde das Wort „Ghetto“ in dieser Zeit auch in die jiddische Umgangssprache aufgenommen, doch bevorzugten jüdische Sozialisten und Diaspora-Nationalisten den positiv konnotierten Begriff „jüdische Gasse“, wenn sie vom sozialen und kulturellen Gefüge der polnischen Juden oder auch von der öffentlichen Meinung unter den „einfachen“ Juden sprachen.

Eine weitere Dimension der „Ghetto“-Metapher erblickte die Referentin zur selben Zeit in den Schriften polnischer Antisemiten. Zwar galt das „Ghetto“ auch hier als Synonym für Isolation und Rückständigkeit, jedoch wurde es als quasi natürliche Lebensform aller Juden betrachtet. Nicht zuletzt erfüllte es den Zweck, die „Reinheit des Polentums“ zu bewahren. Insbesondere im Programm der Nationaldemokraten entdeckte Alina Cała 1896 eine erste Tendenz, die jüdische Bevölkerung als eine weder durch soziale Reform noch durch Konversion veränderbare „Rasse“ wahrzunehmen. Indessen machte sie in der katholischen Presse reaktionäre Bestrebungen aus, der jüdischen Bevölkerung im Rückgriff auf mittelalterliche Synoden und Vatikanbeschlüsse gesonderte Wohnviertel zuzuweisen.

Indem Alina Cała ausdrücklich darauf hin wies, dass all diese Entwicklungen der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ und dem deutschen Einmarsch in Polen um Jahrzehnte vorausgingen, stellte sie ihren Vortrag in den Kontext der aktuellen Debatte um den autochthonen polnischen Antisemitismus und die polnische Beteiligung am Holocaust. In dieses Bild fügte sich, dass polnische Antisemiten die nationalsozialistische „Machtergreifung“ feierten und die zunehmend restriktive Judengesetzgebung der Besatzer vorbehaltlos akzeptierten. Nicht allein der deutsche Einfluss, sondern auch die tiefe ökonomische Krise, so die Referentin, machten den Antisemitismus und das alte Konzept des „Ghettos“ als jüdisches Zwangsquartier immer populärer. Nicht die Deutschen, sondern die Juden figurierten als Hauptfeinde Polens. Ungeachtet dieser ideologischen Wegbereitung des Holocaust in Polen wertete Alina Cała allein die Verbrechen der faschistischen „Falanga“, die bis 1940 Pogrome in Warschau organisierte, als einen Fall direkter Kollaboration. Doch ihre Mitglieder wurden von den deutschen Besatzern umgebracht, bevor diese einen Judenrat beriefen und ihn zwangen, das „Warschauer Ghetto“ als Vorstufe der Judenvernichtung zu organisieren. Die Bedeutung dieses „Ghettos“ positionierte die Referentin in unüberbrückbarer Ferne zu seinem frühneuzeitlichen venezianischen Ursprung.

Das ambivalente „Ghetto“

Unter dem Titel Symbol der Finsternis oder Quelle von Spiritualität? Der „Ghetto“-Begriff in jüdischen und nichtjüdischen Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm Katrin Steffen die Stadt Warschau zwischen 1918 und 1939 in den Blick. Im Zentrum der Untersuchung stand das große jüdische Viertel im Nordwesten der Stadt, die zu Beginn der Zwischenkriegzeit von circa 310.000 Juden bewohnt wurde, an ihrem Ende von circa 380.000. Etwa zwei Drittel lebten aus freien Stücken im jüdischen Viertel und bildeten somit kein „Ghetto“ nach der frühneuzeitlichen Definition. Ungeachtet dessen siedelten sich unter dem Eindruck von wachsendem polnischen Nationalismus und Antisemitismus mehr und mehr Juden in dieser Nachbarschaft an.

In der Wahrnehmung der jüdischen und nichtjüdischen polnischsprachigen Elite, auf welche sich der Vortrag konzentrierte, galt das Viertel undifferenziert als „Ghetto“ mit all seinen klischeehaften Assoziationen von jüdischer Isolation, kultureller Homogenität und Rückständigkeit. Allerdings, so Katrin Steffen, hatte sich die von Alina Cała für die Jahrhundertwende festgestellte Ambivalenz des „Ghetto“-Begriffs verstärkt. So beschrieb der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski 1925 die Bewohner des jüdischen Viertels als „einheitliche Masse“ im „freiwilligen Ghetto“, getrieben von Irrationalität, und der liberal gesinnte Antoni Słonimski interessierte sich für die Juden in erster Linie als Objekt der Modernisierung und Verweltlichung. Auf diesem Wege hoffte er, dem polnischen Antisemitismus die Basis zu nehmen. Hingegen sah der französische Reporter Albert Londres 1929 das jüdische Viertel als „orientalisches Labyrinth“, „geheimnisvoll und unheimlich“ zugleich.

Unter assimilierten polnischsprachigen Juden, die sich bevorzugt außerhalb des jüdischen Viertels niederließen, stellte Katrin Steffen eine ähnlich große Distanz gegenüber der religiösen Tradition fest, doch stufte sie ihre Haltung als differenzierter ein: Zum einen verwiesen sie nüchtern auf die tiefe Verwurzelung religiöser Werte in der jüdischen Bevölkerung, zum andern auf die mangelnde Bereitschaft des polnischen Staates, in Reformprojekte zu investieren. Auch wenn polnisch sozialisierte Juden und Zionisten die Idee einer unveränderlichen jüdischen Rückständigkeit ablehnten, teilten sie die Überheblichkeit der polnischen Elite und westlicher Beobachter gegenüber der Lebenswelt religiöser Juden. Begriffe wie „Ghetto“ und „Ostjuden“ trugen, so die Referentin, maßgeblich zur Marginalisierung der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bei, die selbst in der Regel nicht zu Wort kam.

Der sozialen Realität näher kam Alfred Döblin 1924 in seiner „Reise nach Polen“. Er bemerkte im jüdischen Viertel Warschaus nicht nur Armut und Schmutz, sondern ebenso Juden in makellosen Kaftanen, nach europäischer Mode gekleidete Frauen und moderne Geschäfte und öffnete so den Blick für die Kontraste innerhalb des jüdischen Warschau. Katrin Steffen regte an, gerade diese Perspektive in der künftigen Forschung zu vertiefen und zog bekräftigend die Veröffentlichungen Jakób Appenszlaks, eines prominenten jüdischen Journalisten der Zwischenkriegszeit, sowie Untersuchungen zur Sozialstatistik der Stadt heran. Tatsächlich wies die jüdische Bevölkerung Warschaus durchschnittlich bessere Wohnverhältnisse und eine geringere Sterblichkeit als die übrigen Einwohner auf, und so muss die jüdische Armut zumindest teilweise als publizistische Konstruktion betrachtet werden.

Abschließend untersuchte Katrin Steffen die Motivation der einzelnen AutorInnen, wider besseres Wissen am „Ghetto“-Begriff festzuhalten. „Assimilierten Juden“ ebenso wie Zionisten und westlichen Beobachtern attestierte sie die Strategie, das „Ghetto“ in der Konstruktion der eigenen Modernität und europäischen Identität als negativen Kontrast zu funktionalisieren. In der zionistischen Publizistik stand das „Ghetto“ darüber hinaus auch als Symbol jüdischer Ursprünglichkeit von nationalem Wert.

Keinen Zweifel ließ Katrin Steffen daran, dass das „mental mapping“, die Konstruktion jüdischer Isolation im „Ghetto“ der vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Realität der Warschauer Juden in den Jahren 1918-1939 nicht gerecht wurde. Leider bot nicht allein die Publizistik der Zwischenkriegszeit, sondern auch der Vortrag keinen Einblick in die Selbstwahrnehmung der Bewohner und Bewohnerinnen des jüdischen Viertels. Hier könnte eine Fortsetzung der geglückten Präsentation ansetzen.

Das „Ghetto“ von innen

Den Anspruch auf den in den letzten Jahren in den Jüdischen Studien zunehmend eingeforderten „Blick von innen“ konnte Anna Lipphardt in ihrem Vortrag Das Wilnaer „Ghetto“ im Spiegel jiddischsprachiger Quellen der Zwischenkriegszeit einlösen. Gegenstand der Untersuchung war die jüdische Bevölkerung Wilnas in ihrer Reflexion über den städtischen Raum zwischen 1938 und 1943.

Einleitend verortete die Referentin die jüdische Bevölkerung im Wilna der Zwischenkriegszeit: Vor dem deutschen Überfall auf Polen, dem Wilna in der Zwischenkriegszeit angehörte, zählte die Stadt etwa 60.000 jüdische Einwohner. Sie bildeten im multiethnischen Handelszentrum keine Minderheit, sondern wie Polen und Litauer ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Aufgrund der äußerst differenzierten soziokulturellen Struktur der jüdischen Bevölkerung galt Wilna als Zentrum der litvakischen Orthodoxie, aber ebenso als ein Zentrum der Haskala und diverser säkularer Bewegungen. Somit entzog es sich dem aus westlicher Perspektive oft unterstellten Antagonismus zwischen „Orthodoxie“ und „Assimilation“. Unter den Wilnaer Juden war es üblich, sich – je nach Lebensbereich – auf Jiddisch, Hebräisch, Russisch und Polnisch zu verständigen, aber auch Nichtjuden im jüdischen Viertel sprachen selbst untereinander Jiddisch.

Das jüdische Viertel ging auf das Jahr 1633 zurück, als die Ansiedlung der Wilnaer Juden gesetzlich auf drei einander benachbarte Straßen beschränkt wurde. Tatsächlich wurde diese Anordnung eines „Ghettos“ nie konsequent in die Praxis umgesetzt, so dass Juden stets auch in anderen Teilen der Stadt lebten. Dieser Umstand, so Anna Lipphardt, trug zum außergewöhnlichen Lokalpatriotismus der Wilnaer Juden bei, der auch gegen die Wirtschaftskrise der 1920er Jahre und den wachsenden polnischen Antisemitismus Bestand hatte. Im Gegensatz zum in den vorangehenden Vorträgen thematisierten „Ghetto“-Begriff als Metapher der Rückständigkeit konstatierte die Referentin für das Wilnaer „Ghetto“ in jüdischen Ortslegenden und in der Belletristik sehr positive Konnotationen.

Im Hauptteil ihrer durch zahlreiche Bildquellen bereicherten Präsentation widmete sich Anna Lipphardt der Mikroanalyse von je zwei Texten und Stadtmodellen nach dem Kriterium der jüdischen Selbstverortung. Zunächst untersuchte sie die 1938 im YIVO (Yidisher Visenshaftlikher Institut) unter dem Titel Das ehemalige Vilner Ghetto heute eingereichte soziologische Studie von Gabriel Haus, einem jungen Warschauer aus „assimilierter“ jüdischer Familie. Im Gegensatz zu den übrigen Vortragenden stieß sie hier auf einen „Ghetto“-Begriff, der nicht abstrakt, metaphorisch oder funktional war, sondern als konkrete Raumbezeichung für bestimmte Straßenzüge eingesetzt wurde. Die Arbeit von Gabriel Haus über die Lebenswelt des jüdischen Viertels in der Zwischenkriegszeit, basierend auf Feldforschungen, Interviews und Archivrecherchen, schätzte sie als eine modernen Wissenschaftsansprüchen gerecht werdende Leistung. Seiner präzisen sozialen und wirtschaftlichen Analyse des jüdischen Viertels ging jegliche moralische Bewertung und zeitlose Mystifizierung ab.

Als zweiten Textkorpus wählte Anna Lipphardt den Briefwechsel der 5. Klasse des jiddischen Realgymnasiums in Wilna mit dem Dichter Mani Leib in New York aus den Jahren 1938-1939. Ihr Augenmerk lag hier auf der Raumwahrnehmung und dem kulturgeographischen Horizont neun- bis zehnjähriger Kinder, die sich des transnationalen Horizonts der jiddischen Kultur bewusst waren. Mittels selbstgemalter Bilder und Briefe begleiteten sie Mani Leib, der Wilna nicht kannte, auf einer imaginierten Exkursion durch die Stadt. Besonders auffällig in den Beschreibungen der Kinder, so die Referentin, waren das deutliche Überwiegen nicht spezifisch jüdischer Orte. Allein das „Ghetto“ nahmen sie in die Liste der wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf. Wie der Soziologe Gabriel Haus entstammten die Kinder nicht dem jüdischen Viertel und betrachteten die Enge der Gassen, den Schmutz und den Verfall aus relativ privilegierter Distanz. Zwar sprachen und schrieben sie Jiddisch, die Sprache der „jüdischen Gasse“, doch ging ihr Welthorizont weit über die Grenzen des jüdischen Viertels hinaus.

Mit den zwei Wilnaer Stadtmodellen aus den Jahren der deutschen Okkupation wandte sich Anna Lipphardt einer ebenso ungewöhnlichen wie ergiebigen Quellengattung zu. Beide entstanden in jenem „Ghetto“, das die deutschen Besatzer im Sommer 1941 als Vorstufe der Vernichtung der Wilnaer Juden einrichteten. Das erste Modell war eine detailgenaue Gesamtansicht der Stadt, hergestellt von jüdischen Architekten und Künstlern im großen Ghetto auf Anordnung des deutschen Gebietskommissars. Anna Lipphardt richtete hier die Aufmerksamkeit darauf, dass die Arbeit zuerst im „Ghetto“ ausgestellt wurde und gerade aufgrund der Darstellung des städtischen Raums jenseits des jüdischen Zwangsquartiers Erinnerungen und Sehnsüchte weckte. Den kollektiven Stolz auf das Kunstwerk deutete sie überzeugend als Ausdruck des großen Zugehörigkeitsgefühls der Juden zu ihrer Stadt, aber auch als eine räumliche Wiedereroberung aus der Gefangenschaft.

Als dominant im jüdischen Gedächtnis der Stadt charakterisierte die Referentin nicht diese Stadtansicht, die erst 1990 wiederentdeckt wurde und weitgehend vergessen im Jüdischen Museum in Wilna steht, sondern ein zweites Modell, das jüdische Untergrundkämpfer 1943 auf eigene Initiative anfertigten. Es zeigt das nationalsozialistische „Ghetto“ unter Ausblendung der übrigen Stadt und bildet heute ein prominentes Ausstellungsstück im Haus der Ghettokämpfer in Israel.

In einem pointierten Fazit zeigte Anna Lipphardt die direkten Folgen einer solchen introspektiven Erinnerung an das jüdische Wilna für das öffentliche Bewusstsein auf. Wo ein „Ghetto“-Bild allein die nationalsozialistische Herrschaft spiegelt, so ihr überzeugendes Argument, werde es weder der jahrhundertealten historischen Entwicklung der jüdischen Gemeinde Wilnas, noch ihren vielfältigen Lebenswelten in der Zwischenkriegszeit gerecht. Ebensowenig eigne sich die Rekonstruktion des jüdischen Viertels, die heute von Politikern und Stadtplanern in Vilnius diskutiert wird, das einstige Spektrum jüdischer Kultur abzubilden. Abschließend plädierte sie daher am Beispiel der Wilnaer Juden für eine neue historische Erforschung der jüdischen Diaspora im östlichen Europa, konzipiert nicht allein als Exil- und Isolationsgeschichte, sondern auch als Heimatgeschichte bzw. Geschichte der jüdischen Einheimischen.

Echo und Ausblick

In der Zusammenschau waren die thematisch optimal aufeinander abgestimmten Vorträge der Sektion ein Paradebeispiel dafür, wie Raum durch Kommunikation erst konstruiert und mit Bedeutung gefüllt wird. Der „Ghetto“-Begriff eignete sich in seiner Uneindeutigkeit ganz besonders, diese Mechanismen offen zu legen. Auch wenn andere Begriffe, etwa „Assimilation“ und „Modernisierung“, vergleichsweise undifferenziert verwendet wurden, zeigten die begeisterten Reaktionen des Publikums, dass in der historischen Erforschung des „Ghettos“ Neuland betreten wurde. Darüber hinaus verwies die Diskussion mit den anwesenden GeschichtslehrerInnen auf eine tiefe Kluft zwischen den aktuellen Forschungsdebatten und der unreflektierten Verwendung des „Ghetto“-Begriffs in deutschen Schulbüchern. Die Vortragenden erhielten daher nicht allein den Auftrag, die Ergebnisse ihrer Sektion schnell zu veröffentlichen, sondern sie auch für den Geschichtsunterricht didaktisch aufzubereiten.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
Redaktion
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